Herztropfen Teil I

Ein rätselhafter Fall

Im Küstenland zwischen Karst und Golf hatte ein unfreundlicher Oktobertag Einzug gehalten. Es herrschte Aufsehen in Triest. Am ohnehin belebten Molo San Carlo[1] hatte sich eine beachtliche Menschenmenge eingefunden. Die Leute waren aus den Straßen und Gassen, den Geschäften und Kaffeehäusern in den Hafen geströmt. Da wetzten feine Damen ihre Reifröcke, zwängten sich Kinder in Matrosenanzügen und Rüschenkleidern zwischen ihnen hindurch, wurden Spazierstöcke geschwungen, Klappzylinder gehoben, von Schuten bedeckte Frauenköpfe geschüttelt. Einspänner wurden eiligst umgelenkt, damit ihre feinen Insassen nichts verpassten.

„Entsetzlich! Diese Zeiten haben ihn dazu getrieben!“, monierten die Leute.

Eine Unzahl an Kollegen war bereits vor Ort, als Ubaldo hinzustieß.

Ubaldo

Der junge Gendarm stammte aus einem der Vororte Triests. Er war ein Novellino, denn er gehörte erst seit kurzem dem zu Jahresbeginn gegründeten, 11. kaiserlich-königlichen Gendarmerieregiment an. Der glockenförmige Helm, eine Pickelhaube, war bei weitem nicht bequem. Aber er saß fest auf Ubaldos schwarzem Schopf, was bei Körpereinsatz das Wichtigste war. Er war groß gewachsen, von schlanker, sportlicher Statur – ein körperlicher Vorteil, der ihm in vielen Situationen nützlich war. Seine walnussbraunen Augen hatten grüne Sprenkel und blickten entschlossen unter dichten, schwarzen brauen. Er besaß eine markante, schmale Nase. Sein vorspringendes Kinn war glattrasiert, der Backenbart nicht allzu ausladend, denn das war insbesondere unter den Gesetzeshütern nicht gerne gesehen. Dennoch wollte er wie viele seiner Altersgenossen der Bartmode Rechnung tragen.

Es waren Zeiten des Umbruchs. Ubaldo war auf dem besten Wege, zum Kriminalisten ausgebildet zu werden. Dementsprechend wollte er sich beweisen und ging seinem Beruf voller Inbrunst nach. Wie es sich mit diesem Fall, der sich auf den Steinquadern des Molo San Carlo[2] auftat, verhielt, würde sich erst herausstellen. Der Einsatzbefehl hatte auf Selbstmörder gelautet. Von dem fehlte aber jede Spur.

„Man muss die Verantwortliche finden! Die Signorina muss zur Verantwortung gezogen werden!“, riefen aufgeregte, vorwiegend weibliche Stimmen.

„Das liegt an diesem süßen Teufelszeug! Die Jugend wird verführt, verbietet die cioccolata calda[3]!“, kam es von den Älteren aus den hinteren Reihen.

„Nix da, dieser Spiritismus ist schuld! Der verdreht allen die Köpfe!“, keifte eine Kopftuchfrau in einfachen Wollkleidern.

Der Tumult wurde immer größer, das Stimmengewirr, das sich aus allen Sprachen der Monarchie zusammensetzte, schier undurchdringlich. Von einem unsichtbaren Mädchen war die Rede. Ebenso von Hirngespinsten jenes vermeintlichen Selbstmörders, der im renommierten Caffé Tommaseo angestellt und mitten in seiner Schicht ins Meer gehechtet war.

Ubaldo wollte sich einen Überblick verschaffen. Zunächst waren er und seine Kollegen jedoch damit beschäftigt, die Meute zu beruhigen. Nicht, dass der Ozean am Ende noch mehr Opfer forderte, womöglich gar unter den Ordnungshütern selbst. Ubaldo setzte den Vorderlader zur Absperrung ein und musste all seine Kraft aufwenden, um ihn der Menschentraube entgegenzustemmen. Dem Triester erschien die neue Gendarmerie, die vom gerade mal zwanzig Lenze zählenden Kaiser im gesamten Österreich-Ungarischen Reich installiert worden war, wie eine schicksalhafte Chance. Sie waren aus den Infanterien, Kompanien und Kavallerien der Monarchie zusammengewürfelt worden und mussten sich mit den schwarz-grünen Uniformen ebenso erst anfreunden wie mit den neuen Aufgaben der Verbrechensbekämpfung. Insofern tat Ubaldo sich leichter, denn er war kurz zuvor überhaupt erst Teil des k.k.-Heeres geworden und noch nicht festgefahren in althergebrachten Strukturen.

Ganz und gar nicht herkömmlich war dieser Fall, der im wahrsten Sinne des Wortes einer war, glaubte man den Augenzeugen. Weshalb genau der Freitod eines blutjungen Kellners, von denen es eine Unzahl in dieser Stadt gab und um dessen Posten im Tommaseo sich bestimmt sogleich hundert Andere bemühen würden, ein solches Aufsehen erregte, erschloss sich Ubaldo nicht. Aber er hatte im Gespür, dass mehr dahintersteckte, als er gemeinsam mit den anderen Gendarmen sowie seinem unhandlichen Gewehr samt Stichbajonett-Aufsatz versuchte, Ordnung in die aufgebrachte Menge zu bringen. Dabei war es nicht hilfreich, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die neue Gendarmerie noch auf wackeligen Beinen stand.

Es waren unruhige Zeiten voll des Umbruchs, der Revolutionen und Freiheitsbewegungen. Ubaldo konnte gar den einen oder anderen Kalabreserhut ausmachen, jene Kopfbedeckung, welche die Hitzköpfe der Liberalisten als solche kennzeichnete. Überhaupt waren die Leute kontinuierlich aufgebracht. Sie schienen jedwedes Ereignis als Unrecht und Erschütterung ihres Lebensgebäudes zu empfinden. Von daher nahmen sie banale Störungen des Alltags wie diese zum willkommenen Anlass, das zutiefst empfundene Unrecht in die Welt hinauszuschreien.

Das Rätsel, vor dem Ubaldo im Hafen von Triest inmitten wogender Menschen, schwankender Segler, auf ihre Ladung wartender Dampfer, Fährschiffe und Pferdekutschen stand, wurde mit jeder Aussage größer. Nach den Theorien der Umstehenden waren es die verpufften Märzrevolutionen, heiße Schokolade und eine mysteriöse Frau, die den jungen Kellner in den Tod getrieben hatten. Möglicherweise auch die Aufrührer, die sich regelmäßig im Caffé Tommaseo trafen. Nicht zu vergessen die Geisterbeschwörer, die allerorts ihr Unwesen trieben. Es musste sich erst herausstellen, wer von all den vermeintlichen Wahrsagern tatsächlich zur Erhellung beitragen konnte. Jedenfalls hatte sich eine spannungsgeladene Mischung aufgetan, das sagte ihm seine markante Nase ganz deutlich. Er musste heftig niesen. Dies brachte ihm böse Blicke ein, ließ jedoch ein paar der Aufgebrachten zurückweichen. Alsbald hatten die Gendarmen die Oberhand gewonnen, den Mob aufgelöst und einige Personen separiert, welche die Vorgänge aus nächster Nähe beobachtet hatten.

Der vielversprechendste Zeuge war ein compagno[4] jenes jungen Mannes aus dem Caffé Tommaseo, um den sich die ganze Aufregung drehte. Das zitternde Bürschlein stand ihnen in eine Decke gewickelt Rede und Antwort. Er war seinem Kollegen, Zimmergenossen und Freund namens Giuseppe nachgesprungen, hatte ihn zu retten versucht, ungeachtet der herbstlichen Unbill. Das Bürschlein berichtete schluchzend, dass es zu spät gekommen war. Obwohl es Giuseppe so dicht auf den Fersen gewesen war, dass es nur die Hand nach ihm hätte ausstrecken müssen. Aber Giuseppe war so plötzlich und unwiederbringlich vom Meer verschluckt worden – das Bürschlein war von unfassbarem Entsetzen gepackt worden. Jedenfalls glaubte der Zeuge keineswegs, dass Giuseppe einen Grund gehabt hatte, sich in den Tod zu stürzen.

Jenen, Giuseppe, beschrieb das Bürschlein als unaufdringlichen Charakter mit rotbäckigem Milchgesicht und blonden Haaren, unter denen sich helle Augen freundlich in die Frauenherzen stahlen. Giuseppe sei äußerst talentiert und beliebt gewesen. Er habe Geschick im Umgang mit einer Spezialität bewiesen, die gerade erst im Aufkommen begriffen war: der cioccolata. So habe Giuseppe eine Unzahl an Damen, junge wie ältere Semester, zu seiner Stammkundschaft gezählt. Meisterhaft habe er es verstanden, die Trinkschokoladen exakt an die verwöhnten Geschmacksknospen der elitären Kaffeehausbesucherinnen anzupassen, sie so zu verfeinern, dass die exquisiten Genusserlebnisse diese scharenweise anzulocken vermochten. Eine von ihnen habe ihn verändert.

Eine Unbekannte habe ihn dermaßen in den Bann geschlagen, dass er von nichts und niemand anderem mehr gesprochen habe, seit sie vor Wochen erstmals aufgetaucht war. Sie sei ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Giuseppe pflegte ergriffen von ihr zu schwärmen. Sie hätte ein Herz aus Milch, wie er erzählt hatte, und ihre Haut sei wie der Honig, der aus dem Nektar der Steinweichselblüten entsprang. Der zitternde Zeuge, das Bürschlein, hatte sie niemals zu Gesicht bekommen. Überhaupt war sie niemandem von der Belegschaft jemals aufgefallen. Dabei sei sie laut Giuseppe sehr auffällig gewesen, ihr Erscheinungsbild so vollkommen anders. Die hellbraunen Locken hätten Scheitelpartie und Hinterkopf der Fremden üppig bedeckt, die seitlichen Partien hingegen hätte sie ganz kurzgeschnitten getragen. Ihre Überbekleidung sei von einem seltsamen Karomuster überzogen gewesen und sackartig an ihrem Körper gehangen. Von einem Ohr sei eine Kette mit einem silbernen Tropfen daran gebaumelt. Darüber hinaus hätte sie Hosen getragen und geschnürte Stiefel ganz ohne Absätze. Kein Korsett, keinen Hut, keine Schute, keine Krinoline. Das ergab keinerlei Sinn.

Jedes Mal hätte sie einen wertlosen rosa Schein hervorgezogen, und Giu, wie das Bürschlein ihn nannte, hätte ihr wieder und wieder gesagt, dass sie damit nicht zahlen könne. Dass sie aber einfach alles zusammen bezahlen könnte, wenn Milch und Honig wieder flossen. Sie habe daraufhin nie etwas konsumiert, sich jedes Mal wortlos abgewandt, den Blick aus ihren blauen Augen, die von langen, hellen Wimpern umkränzt waren, auf etwas ganz Bestimmtes gerichtet, welches sich außerhalb des Kaffeehauses befunden habe. Dann sei sie gegangen, und er habe sie aus den Augen verloren. So hatte Giuseppe es seinem Kumpan, mit dem er sich in einer kleinen Kammer unter dem Dach das Bett teilte, erzählt.

Am heutigen Tage nun, exakt einen Tag vor dem Ultimo, war Giu aufgebracht gewesen, wie das Bürschlein berichtete, die Decke fest umklammernd, immer wieder mit den Tränen kämpfend. Die rätselhafte Fremde sei Giuseppe zutiefst erschüttert erschienen, wie er dem Kollegen noch in der Küche des Caffés anvertraut hatte. Ihre Augen seien so trüb gewesen, so vollkommen glanzlos. Giu sei entsetzt gewesen, habe etwas von Schuld gemurmelt, und dass sie nicht vergehe. Sodann habe er mitten unter der Schicht das Tuch auf den Tresen geworfen und einfach so das Tommaseo verlassen. Das Bürschlein habe sich Sorgen um ihn gemacht und sei ihm sofort nachgeeilt. Noch immer sei weit und breit keine Frau auszumachen gewesen, auf welche die Beschreibung gepasst hätte. Aber Giuseppe sei diesem Phantom nachgerannt, vorbei am Teatro Grande[5], den Molo San Carlo[6] hinaus, habe „Vergeben! Nicht vergehen!“ gebrüllt. Oder auch „Kein Vergehen!“, ehe er sich wie von Sinnen ins Meer gestürzt hatte.

Emma

Emma saß auf der bronzenen Windrose am Ende des Molo Audace[7], die blauen Augen aufs offene Meer gerichtet. Der Wind schickte ein herbstliches Lüftchen in ihren Rücken. Sie zog den Kragen ihres hellen, karierten Wollmantels enger. Seltsam, sie war eigentlich kein erfrorener Mensch und es war ein milder Oktobertag, den sie zusammen mit ihren Freunden in Triest genoss. Auch wenn es die Sonne heute nicht so recht durch die Wolkendecke hindurch schaffte. Am Molo[8] tummelten sich nicht allzu viele Menschen, vorwiegend Touristen. Schiffe waren bis auf einen Frachter am Horizont keine zu entdecken, dafür umso mehr freche Möwen.

Emma war Philosophiestudentin und daneben Singer-Songwriterin. Vielleicht verhielt es sich auch umgekehrt. Sie und ihre Musikerfreunde nutzten das verlängerte Wochenende zwischen dem Nationalfeiertag und Allerseelen und waren ans Meer gefahren. Die italienische, einst österreichische Stadt an der war wie geschaffen dafür, um noch schnell vor dem Winter dolce vita zu genießen.

Audace war Italienisch für Kühnheit, Wagemut und Verwegenheit. Eigenschaften, mit denen sich Emma ganz und gar nicht beschreiben würde. Versonnen fuhr die junge Österreicherin durch ihre palomino-braunen Locken. Die waren ihr zu üppig, weshalb sie ihr Kopfhaar an den Seiten stets abgeschoren trug. Nur am Ober- und Hinterkopf ließ sie es zu, dass sich ihre Lockenpracht entfaltete. Diese Frisur war zu ihrem Markenzeichen geworden.

Erneut musste sie schaudern. Schon im Tommaseo war trotz des Cappuccino, den sie geordert hatte, Gänsehaut über sie gekommen. Sie wurde doch hoffentlich nicht krank? Im Tommaseo hatte Emma eine Erscheinung gehabt. Ihre Bandkollegen hatten sie ausgelacht. Mit von der Partie waren der charismatische, blonde Max, zuständig für Gitarre und Vocals. Die temperamentvolle Veronika, von allen nur Vero genannt, und in der Percussion zu Hause. Gregor, ein bärtiger, sanfter Riese – hinter dem Schlagzeug jedoch ein Viech. Schließlich Michi, Bassist mit Köpfchen, aber kein Mann vieler Worte.

Das Tommaseo war das älteste Kaffeehaus Triests, es existierte seit der k.u.k. Zeit. Dort, an dessen runden, marmorierten Tischen, hatten große Literaten weltbewegende Ideen gesponnen. Die fünf Musikerfreunde hatten Spaghetti alle vongole[9] geordert. Eine Portion für alle, was den Kellner ein verächtliches Kopfschütteln gekostet hatte. Die drei Flaschen vom feinsten Vino[10] hatten das Ansehen der Fünf dann wieder steigen lassen. Mitten in ihrem launigen Digestif-Weltverbesserer-Geplauder war an Emma ein besonders junger Kellner, ein halbes Kind noch, vorübergegangen. Er war anders gekleidet gewesen als die anderen, sein Livree war ihr altmodischer erschienen. Fast wie ein Kostüm. Als er sie erblickt hatte, hatte er sie angesehen wie eine alte Bekannte, gelächelt, ihr zugenickt. Das hatte ein regelrechtes Erzittern in ihr ausgelöst, und der nächste Schluck vom Cappuccino hatte nach Kakao geschmeckt. Richtig schokoladig, sündig süß, mit Anklängen von Honig und gebratenen Mandeln.

Emma hatte den seltsamen Kellner danach im gesamten Lokal nicht mehr ausmachen können. Aber das Erlebnis hatte sie nicht mehr losgelassen. Es war so intensiv gewesen, dass sie die Karte nach Kakaospezialitäten durchsucht, aber außer stinknormaler cioccolata calda[11] nichts gefunden hatte. Dann hatte sie einen der Kellner nach dem Kollegen von vorhin gefragt. Aber der hatte keinen auch nur annähernd so jungen, hellhäutigen, rotbäckigen Bediensteten auftreiben können.

Jetzt, auf dem Mahnmal für das Kriegsschiff Audace[12] sitzend, konnte Emma nur noch an den Jüngling denken, der immer noch so lebendig vor ihrem geistigen Auge herumlungerte, als hätte sie ihn wahrhaftig gekannt.

Ubaldo

Ubaldo saß in der Amtsstube der Kaserne und raufte sich die kräftigen, schwarzen Haare. Seine Augenbrauen hatte er so angestrengt zusammengezogen, dass sie eine beinahe geschlossene Linie ergaben. Die anderen Gendarmen waren längst zum Wein übergegangen und diskutierten immer ausgelassener die zunehmend fabuloser werdende Geschichte vom im Meer Verschwundenen und dessen Mädchen. Bald war Jene eine betörend schöne Sirene, die mit ihrem Gesang junge Männer lockte. Sobald jedoch ihr Auserwählter die Lippen spitzte, würde sie ihr Maul aufreißen und ihn mit dem fauligen Gestank, der zwischen ihren spitzen Fischzähnen hervordrang, bewusstlos machen, sich erst an ihm vergehen und ihn schließlich verschlingen. So sei es auch dem Kellnerjüngling ergangen. Die Wänste bebten nur so unter den schwarz-grünen Uniformröcken ob der immer frivoler werdenden Ausschmückungen. Ubaldo, der zielstrebige Grünsporn, saß abseits, und ließ nun ein lautes Brummen vernehmen.

Der Kopf des Hauptmanns schnellte zu ihm herum, und er forderte ihn auf: „Na los, lass mal deine Theorie hören, Huhubald!“

Die Menge grölte. Ubaldos Vorgesetzter war Österreicher und beliebte ihn ausschließlich in der verballhornten, deutschen Version seines Vornamens anzusprechen. Es machte ihm nichts aus. Er war der Jüngste in seiner Einheit, und von seinem Eskadron[13], dem er zuvor im k.k. Heer angehört hatte, einiges gewöhnt. Ubaldo hatte dem Hauptmann nicht nur Jugend, sondern auch Köpfchen und ein wohlfeiles Mundwerk voraus. Dazu das richtige Maß an Zurückhaltung und Geduld, das ihn immer erst in jenen Momenten, in denen keiner damit rechnete, nach vorne preschen, zustoßen und einen Sieg für seine Mannschaft einfahren ließ. Von daher war Ubaldo bei seinen Kollegen beliebt, was den Hauptmann wurmte. Daher wurde er der vergeblichen Versuche, Ubaldo klein zu kriegen, nicht müde.

„Ich weiß nicht“, setzte Ubaldo an. „Ich finde, wir sollten es als Vermisstenfall betrachten, und nicht gleich als Wahnsinnstat abtun.“

„Hm hm, Huhu.“, macht der Hauptmann abfällig und kratzte mit dem Nagel des kleinen Fingers ein paar Essensreste aus den Zähnen.

„Ein Gespenst mit geschorenem Kopf, das rosa Geldscheine verteilt, dazu erdrückende Schuldgefühle und die Tatsache, dass sämtliche Zeugen, darunter nicht minder hirngespinstige Herrschaften des Risorgimento[14], diesen Giuseppe wie von allen guten Geistern verlassen ins Wasser hechten sahen – und zwar nur ihn, niemand anderen, geschweige denn eine Frau in einem karierten Sack – ja, das klingt wahrlich nicht wahnsinnig.“ Er machte eine theatralische Pause, dann brüllte er: „Nur nach einem wahnwitzig feuchten Traum!“

Die nicht sehr geistreiche Zote riss den Rest der illuminierten Truppe von ihren Sesseln. Da sprang Ubaldo auch von seinem hoch. Der Hohlkopf von Hauptmann hatte ihn doch tatsächlich auf eine Idee gebracht.

„Ich werde auf Geisterjagd gehen!“, rief Ubaldo und trat näher.

„Wenn es sein muss, lasse ich Tote wiederaufleben, und dabei können wir ganz nebenbei dem Risorgimento auf den Zahn fühlen.“

Er ließ seine Faust in die Tischplatte vor dem Hauptmann einschlagen.

Dann beugte er sich zu ihm, sah aus seinen walnussbraunen Augen in die von roten Äderchen durchzogenen des Hauptmanns, und raunte diesem zu: „Das ist DIE Gelegenheit, näher an ihren Kreis heranzukommen und herauszufinden, welche Hirngespinste genau sie verfolgen, im Hinterzimmer des Tommaseo. Was sie wissen, was sie planen. Wozu sie wirklich fähig sind. Oder ob es sich vielleicht nur um eine Handvoll harmloser Möchtegern-Weltverbesserer handelt.“

Ubaldo ging mit dem Gesicht noch näher an den Mann heran, dessen Haupt vom Wein und jetzt auch vor Aufregung immer röter wurde.

Eindringlich raunte er ihm zu: „Dann könnte ein Gespenst einem angesehenen, aber nicht einheimischen Hauptmann dazu verhelfen, dem hochlöblichen Polizeioberpräsidenten in Wien dazu zu verhelfen, den revolutionsgeplagten Frischlingskaiser mit handfesten Informationen aus dem Küstenland zu versorgen.“

In der Amtsstube war es totenstill geworden, nur einer pfiff durch die Zähne.

Der Hauptmann nahm einen großen Schluck vom Wein, rülpste, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.

„Triest könnte einmal mehr seine Loyalität beweisen.“, begann er dann, während seine Miene sich aufhellte, die Mundwinkel nach oben wanderten.

Schließlich riss er den Mund auf, sodass Ubaldo bis zu seinen hüpfenden Gaumenzäpfchen sehen konnte, brüllte und lachte.

Fedelissimo[15]!“, schrie er, sprang auf, umarmte Ubaldo. „Fedelissimo! Fang am besten gleich damit an!“, gab er ihm schließlich mit einem Tritt in den Hintern den entsprechenden Befehl.

Damit war der Gendarm aus der schwülstigen, wenig zielführenden Atmosphäre der Stube in den hereinbrechenden Abend entlassen. Das war genauso verlaufen, wie von Ubaldo erhofft. und. Draußen atmete er erst einmal tief durch. Es roch nach Regen. Ubaldo rückte seine Uniform zurecht, überprüfte den Sitz des Säbels, setzte die Pickelhaube auf, schwang den Vorderlader auf seine Schulter und machte sich auf den Weg ins Tommaseo. Die rosa Scheine gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Weshalb sollten sie rosa sein? Vielleicht meinte dieser Giuseppe denselben Farbton, den die Aufschläge der neuen Uniformen hatten. Was für Ubaldo ebenso befremdlich war. So wie die ganze Uniform, die zwickte und zwackte. Ubaldo versuchte, den Kasernenhof zügig zu überqueren, während er mit dem Sitz des schwarz-grünen Rocks kämpfte. Dabei verfing sich der Säbel zwischen seinen Beinen, und er stolperte, was mehr Lärm auf dem Innenhof erzeugte, als ihm lieb war. Nicht zuletzt, da der Vorderlader nicht gewillt war, auf seiner Schulter zu bleiben. Der Helm war erst recht wieder verrutscht. Nein, so ging das nicht. Ubaldo brauchte andere Kleidung. Erst recht, wenn er eine Gesprächsbasis mit den Mitgliedern des Risorgimento[16] herstellen wollte. Also suchte er seine Kammer auf und warf sich in zivile Kleidung.

Wenn er doch nur einen Beweis gehabt hätte, einen dieser rosa Scheine. Dann hätte er ihn untersuchen können. Gespenster konnten ja keine Spuren hinterlassen. Ubaldo war fasziniert von der daktyloskopischen Methode. Mitunter ließen sich aufschlussreiche Fingerabdrücke finden, die ihn zu dem Mädchen, jedenfalls einen Menschen aus Fleisch und Blut, führten. Er wusste selbst nicht, warum, aber er glaubte nicht, dass es sich um ein reines Hirngespinst handelte. Die Hexenverfolgungen sollte die Menschheit doch hinter sich gelassen haben.

Da glaubte er schon eher an einen geschickten Trick dieses neuen Zeitvertreibs, wie hieß das doch gleich? Spiritismus. Diese Scharlatane, die mit Séancen, Tischrücken und anderen Tricks vorgaukelten, mit Toten in Kontakt zu stehen, und doch nur den Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche zogen. Auch in Ubaldos Heimatstadt gab es bereits Vorfälle. Er selbst war bei der Räumung einer Villa dabei gewesen, in der eine solche mystische Zusammenkunft eskaliert war. Das Medium war vollends entrückt gewesen, die anwesenden Damen hochaufgelöst, und die Männer waren sich in die Haare geraten, weil der angebliche Verstorbene, den sie beschworen hatten, ein pikantes Familiengeheimnis ausgeplaudert hatte. Ubaldo musste den Kopf schütteln, während er sich dem trapezförmigen Gebäude und damit dem ebenerdig gelegenen Caffé näherte. Nein, in Krisenzeiten waren die Menschen noch empfänglicher für Unsinn. Na wenigstens brauchte er sich keine Sorgen um seinen noch jungen Berufsstand zu machen.

Beim Tommaseo angekommen, musste Ubaldo feststellen, dass der verschwundene Giuseppe wohl durchaus so etwas wie ein Magier war. Es schien, als wäre die gesamte unverheiratete sowie vergebene Damenschaft von Triest und Umgebung, darüber hinaus sämtliche wohlhabenden Witwen, versammelt. Sie alle empörten sich lautstark, in den unterschiedlichsten Tonhöhen. Manche weinten gar bitterliche Tränen. Wie Ubaldo alsbald heraushörte, ging es dabei jedoch keineswegs um den armen Kerl selbst. Nein, sie schmachteten ebenso sehnsuchts- wie temperamentvoll seinen Cioccolata-Kreationen nach. Nachdem er genug gehört hatte, vor allem von den falschen Selbstmitleidsbekundungen, drängte er zu den Räumlichkeiten weiter, die sein eigentliches Ziel waren. Jene, in denen die Mitglieder des Risorgimento[17] ihre Träume von Freiheit und Wiedererstehung Italiens woben. Sie waren nicht nur Ubaldos Chance, sich zu beweisen. Er war tatsächlich gespannt, wie radikal, liberal oder doch progressiv die Ideen zu einer besseren Nation waren. Vielleicht waren sie aber auch nur reine Hirngespinste.

Emma

Emma hatte ihren Hintern auf das Mahnmal geschwungen, den runden Bronzekompass auf dem Molo Audace[18].

„Unsere Emma ist schon wieder am Träumen.“, riss Max sie aus ihren Gedanken.

„Möchtest wohl ein wenig Kühnheit tanken? Wo soll die Reise denn hingehen?“

Er stand dicht bei ihr, ein schwarzes Lederkäppi auf seinem blonden Schopf, in einer Hand die Gitarre. Die andere spielte mit Emmas Tropfenohrring. Der sollte Emma stets daran erinnern, dass ihre Träume begrenzt waren. Dass sie sich niemals einfach so zu Abenteuern aufmachen konnte, denn sie war limitiert. Emmas Herz war ihre Schwachstelle.

Jetzt sah sie Max in die Augen: „Fang bloß nicht so an.“

Er ließ den Tropfenohrring los und legte seinen Wuschelkopf schief.

„Weißt du noch?“, fragte er. „Die Garagenband? Unsere hochtrabenden Pläne, richtige Rockstars zu werden? Denkst du noch manchmal an diese Zeit?“

Er meinte jene Zeit, in der sie ein Paar gewesen waren. Natürlich dachte sie oft daran, das wusste er ganz genau. Genauso gut, wie er wusste, dass es für sie Grenzen gab. Dass es nie gut ausging, wenn man vollkommen planlos in See stach. Dass man mit einer Nussschale nicht gegen die Stürme des Lebens ankam. Dass ein Anker nicht umsonst an einer Kette hing, so wie ihr Tropfen. Es brauchte Rückhalt, um voranzukommen. Verankerungen und verlässliche Seile, um zwischendurch anlegen, auftanken, Vorräte für die Weiterreise anschaffen zu können. Max wollte immer nur mit Volldampf voranpreschen, dabei am Bug stehen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer das Steuerruder bedienen oder den Kessel heizen sollte.

Max ließ sich vor ihr auf den Steinquadern des Molo nieder und stimmte mit der Gitarre einen Song an. Sogni appesi[19] von Ultimo[20], einem seiner Idole. Max versank in der Musik, hing seinen eigenen Visionen nach. Ein Teil von Max‘ Familie stammte aus Italien, daher beherrschte er die Sprache fließend. Nicht zuletzt das hatte Emma damals schwach werden lassen für diesen Schwachkopf. Er hatte immenses Potential und blutete für die Musik. Sie hingegen musste damit leben, dass es bei ihr dafür nicht reichte. Oder vielmehr, dass sie gar nicht bluten durfte. Denn dann würde sie ausrinnen. Sie war zu verletzlich, als dass sie ein solches Leben am Limit riskieren konnte. Nein, sie war weder kühn noch verwegen. Aber Emma konnte die Musik dazu nutzen, sich zu schützen. Konnte Kokons damit weben, Auffangnetze spinnen, Wälle bauen, sie zu Wellenbrechern werden lassen, wenn die Brandung zu stark wurde.

Das war Max zu wenig. Er wollte die Welt erobern – und vergaß dabei, dass die Stürme, die er entfachte, nur zu oft alle in seinem Umfeld von ihren Füßen rissen.

„Hey Max, vielleicht solltest du es im Tommaseo probieren!“, rief Gregor, der Schlagzeuger. „Weißt du noch, der Kerl auf dem Foto? Der Verwandte von dir? Zeig ihnen das Bild, und sie lassen uns bestimmt auftreten!“

Gregor, der Bärtige Riese mit der Bassstimme, saß unweit von ihnen auf einer Bank, fütterte die Möwen mit Chips und hatte so laut losgebrüllt, dass diese schnarrend das Weite suchten. Emma durchzuckte in dem Moment ein Geistesblitz. Zwar wusste sie nicht, von welchem Bild die Rede war, wer da so verblüffende Ähnlichkeit mit Max haben sollte. Wahrscheinlich war sie gerade am WC gewesen. Aber bestimmt gab es Fotos vom Personal. Sie zückte das Handy und googelte, musste aber nach kurzer Zeit aufgeben. Es gab nicht viele Bilder. Jemanden, der Ähnlichkeit mit ihrem Phantom hatte, konnte sie schon gar nicht erkennen. Aber er ließ sie einfach nicht los. Sie fühlte sich ihm verbunden Also nichts wie zurück zum Kaffee. Emma schwang sich von dem Windrosendenkmal, machte einen Bocksprung über den empörten, vor sich hin klimpernden Max, und rief: „Na los, Leute, kommt! Das klingt doch nach einem guten Plan, der Abend ist noch jung!“ Dann eilte sie los, zurück zum Tommaseo, sodass ihr karierter Mantel sich im nachmittäglichen Oktoberwind blähte.

Ubaldo

Ubaldo trat aus dem Tommaseo, als es bereits finster war. Er nahm den Krempenhut ab und ließ die Abendluft an seine glanzvolle, schwarze Haarpracht. So konnte er besser nachdenken. Das Gespräch mit den Leuten des Risorgimento[21] war ganz gut verlaufen. Die Freiheitskämpfer waren keineswegs dumm. Sie hatten schnell durchschaut, dass er Gendarm war. Da war ihm seine Untersuchung der Geschichte mit dem Geistermädchen nur recht gekommen. Die hatte er vorschieben und somit gröbere Schwierigkeiten umschiffen können, so tun, als würde er ihnen – vorerst – nicht ins Gehege kommen wollen, sie als wertvolle Zeugen betrachten, und zugleich zeigen, dass auch er weder ein Dummkopf, noch ein Feigling war. Wer weiß, dachte Ubaldo.

Wenn schon nicht der Fall des vermissten Giuseppe an einem Tag gelöst werden kann, so führt mich der Unglückselige vielleicht an meinen Aufstieg heran.

Ubaldo hoffte, in absehbarer Zeit der berittenen Einheit angehören zu dürfen. Er war auf dem Pferderücken zu Hause, seit er denken konnte, denn bereits sein Großvater und Vater waren bei der Kavallerie. Die Umstrukturierungen hatten Ubaldo diesbezüglich nun zurückgeworfen, denn natürlich waren die Hintern der Altvorderen des Eskadrons ihm vorgezogen worden und besetzten nun auch die höchsten Sättel der neu geschaffenen k.k. Gendarmerie. Also musste er sein Dasein als Ordnungshüter vorerst zu Fuß fristen.

In der Sache selbst war er leider kein Stück weitergekommen. Niemand hatte je eine junge Frau mit kariertem, sackartigem Übergewand und halb geschorenem Lockenkopf gesehen. Auch keine rosa Scheine. Ubaldo musste schleunigst zurück in die Kaserne und sich wieder in die Uniform zwängen, der Nachtdienst wartete. Da hatte er wenigstens Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Auch wollte er seinem Freund Carlo, der einen Modesalon führte, einen Besuch abstatten. Möglicherweise war ja über das karierte Kleidungsstück etwas herauszufinden. Die Mode konnte vielleicht einen Hinweis auf ihre Herkunft geben. Carlo, kein Mann bescheidener Worte, tat sich gerne als verkanntes Genie, seiner Zeit voraus und Vertreter einer ganz neuen Strömung hervor, der gehobenen Schneiderei. Und dass nur er es vermochte, die Damen und ihre Bedürfnisse zu verstehen. Jedenfalls war er weit herumgekommen und seine Kontakte ebenso vielfältig wie unerschöpflich. Gewiss war auch, dass Ubaldos Freund ein berüchtigter Casanova und daher bei ihm stets der beste Spumante vorrätig war, den man in der Stadt bekommen konnte. Für seine betuchte Kundschaft war dieser nicht zu selten der Schlüssel zu überbordenden Kaufräuschen. Von Carlo hatte Ubaldo alles gelernt, was es über den Umgang mit Frauen zu lernen gab. Wie man sie erst ein-, dann um den Finger wickelte, nur um ihnen die vielen Schichten erst wieder vom Leib zu reißen.

Auf dem Weg zurück in die Kaserne vermeinte Ubaldo, vom Meer her eine engelsgleiche Stimme zu vernehmen. Ihr Gesang schien über das dunkle Triest zu einher zu ziehen wie die Gewitterwolken, die sich zuweilen von den Julischen Alpen meerwärts schoben. Gekommen, um zu bleiben, zirkulierend zwischen mediterranem, kontinentalem und Gebirgsklima, zugleich faszinierend und unheilvoll.

Nicht schon wieder ein Selbstmord

Emma

Freudetrunken und beschwipst torkelten, taumelten und tanzten die fünf Freunde über den Molo Audace[22]. Der Morgen graute. Noch wollte der runde, volle Mond nicht weichen, leuchtete ihnen milchig in den neuen Tag hinein. Diese Nacht war wie am Schnürchen verlaufen. Sie hatten ihre Zuhörer begeistert wie noch nie, und das nicht nur im Caffé Tommaseo. Dieses war nur der Beginn einer ganz besonders ausgiebigen Lokaltour gewesen. Das Geld, das sie in dieser Nacht eingenommen hatten, war reichlich in die flüssigen Grundlagen ihrer musikalischen Entfaltung geflossen, um den Kreislauf aus Inspiration und Virtuosität aufrecht zu erhalten, aber es war so viel gewesen, dass sogar noch etwas übrig war. Das schwarze Lederkäppi von Max hatte sich als magischer Hut entpuppt, der das Geld geradezu anzog. Darin befand sich nun ein kleines Restvermögen, sicher verwahrt von Michi, ihrem Bassisten und Finanzminister, der die Lederkappe nicht mehr los- und sich auch von den vehementesten Versuchen von Max, es ihm zu entreißen, wenig beeindrucken ließ.

„Dasssissssicher nich für deinne Droge … ge … Drogenne … schäfde gedacht.“, lallte Gregor, der Große, mit einer Hand Max abdrängend und somit Michi, die andere halbe Portion, beschützend. Gleichzeitig schwang er die Bierflasche wie einen Säbel.

„Sagt der Banause, der selbst in der Heimat von Wein, Weib, Gesang und Prosecco nicht auf sein Proletengesöff verzichten will!“, neckte ihn Max, der jetzt vor ihm her und über die großen Steinquader hüpfte, als wäre er über jeden Abgrund, jede Kante, jedes Bruchstück, von denen der Untergrund reichlich zu bieten hatte, erhaben.

Max erstaunte seine Freunde jedes Mal aufs Neue mit seiner Widerstandsfähigkeit. Obwohl an ihm nicht viel dran war, vertrug er am allermeisten von allen Menschen, die Emma kannte. Er schien gar eine Art Immunität gegen Alkohol, aber auch Drogen aller Art zu besitzen. Er konnte wahrlich saufen wie ein Loch und sich einwerfen, was er wollte, ohne dass man es ihm anmerkte. Da gab es kein Buchstaben verschleifen, keine Filmrisse oder Kontrollverluste. Und er war jedes Mal früh am nächsten Morgen schon wieder fit wie ein Turnschuh. Alles, was jemals passierte, war, dass er zwischendurch für eine Viertelstunde in eine Art Koma fiel. Aus dem durfte man ihn nur niemals nicht erwecken, striktes Wiederbelebungsverbot, dann war alles gut. Aber wehe, irgendjemand hielt sich nicht daran. Dann wurde ein wahrer Sturm an Emotionen entfesselt, brach ein Größenwahn-Stänkerei-Überschätzungsinferno aus Max heraus, das stets in demselben folgenschweren Triathlon endete: Zumindest eine Schlägerei, Krankenhaus, Polizei. Die Reihenfolge konnte variieren, aber das hatten sie rund um den Erdball bereits durch. Diesmal hatte zum Glück nichts seinen Power Nap unterbrochen, und sie hatten die ganze Nacht vom liebenswerten Entertainertalent ihres unumstrittenen Frontmans profitieren können. Fast hätte Emma wieder schwach werden können.

Justament in diesem Moment heftete er seinen Blick auf sie. Max kam näher, sah ihr tief in die Augen. Dann stoppte er. Begann mit der Hand durch die Luft zu kreisen, und vollführte eine elegante, tiefe Verbeugung. Emma musste glucksen. Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, kam noch näher, ergriff ihre Hand und drückte mit seinen vollen Lippen einen sanften Kuss auf ihren Handrücken. Emma durchlief Gänsehaut, auch, da sie ob ihres trunkenen Zustands für nichts garantieren konnte. Dann kam er näher.

Max drückte seinen Körper an ihren, begann, sie beide zu wiegen und ließ ein betörendes Liebesgeflüster erklingen, das Sirenengesang in nichts nachstand: „Du bist es, die ich will. Immer noch. Ich habe nie aufgehört, dich zu begehren.“

Er drängte sie rückwärts, immer weiter den Molo Audace[23] hinaus.

„Du bist betrunken“, machte Emma einen halbherzigen Versuch, sich ihm zu entziehen. Das entfachte ihn nur noch mehr.

„Und du bist so schön wie am ersten Tag. Du. Emma.“, raunte er und hatte den Arm um ihre Taille geschlungen, seinen Handteller auf ihren Rücken gelegt.

„Du. Trau dich doch. Tu.“

Dieser Bastard, jetzt wechselte er doch glatt ins Italienische. Max zog sie an sich, während er ihr in die Augen sah und versicherte: „Ich bin vollkommen klar im Kopf, Emma, cara mia, ti voglio. Ho sempre voluto solo te. Sii audace[24], Emma. Sei kühn und wage es mit mir.“

Zärtlich strich Max eine Locke aus ihrer Stirn. Emma konnte nur noch sein wunderhübsches Gesicht vor sich sehen, das vom angebrochenen Tag in weiches, mediterranes Meereslicht getaucht wurde. Sie betrachtete seinen breiten, roten Mund, seine charakterstarken Wangen, seine runde Nase, seine wuscheligen, blonden Haare. Im nächsten Moment küsste er sie, und sie wehrte sich nicht. Immer stürmischer wurde der Kuss. Max wanderte zu ihrem Hals, versuchte unterdessen, sie ihres Mantels zu entledigen, schaffte es aber nicht, da ihre Umhängetasche sich kreuz und quer legte.

„Erinnerst du dich an die wunderbaren Zeiten, die wir erlebt haben?“, stieß er zwischen den Küssen hervor.

Das ließ sie aufwachen. Ja, sie erinnerte sich – an seine Starrköpfigkeit, seine Unberechenbarkeit, sein unzähmbares Temperament. Dass dieses mit ihrem gemeinsam eine so explosive Mischung ergeben hatte, dass es nicht nur die Band auseinandergebracht, sondern auch ihr Herz gebrochen hatte.

Max war inzwischen vor ihr auf die Knie gefallen und verfiel in flehentliche Liebesschwüre: „Emma, du Großartige, komm zurück zu mir. Lass uns wieder zusammen sein.“

Er öffnete auf Bauchhöhe ihren Mantel, streifte diesen zur Seite, legte ihre Mitte frei, die ob des Crop Tops unbedeckt war. Max bearbeitete ihren Bauch mit seinen Lippen. Emma wollte ihn abwehren. Schon war seine Zunge bei ihrem Bauchnabel angelangt. Er hatte ihre erogene Zone also nicht vergessen. Während dichter Nebel hereinbrach und alles um sie herum in immer diffuseres Licht tauchte, stöhnte Emma auf und rang nach Luft.

Nein! Sie wollte das nicht. Aufgewärmte Beziehungen gingen niemals gut! Zudem hatte sie nach den Ereignissen hier in Triest gerade wieder Hoffnung geschöpft, dass das mit ihrer Musik etwas werden könnte. Aber so nicht! Ihr Herz lief Gefahr, vollends zu Wachs in seinen Händen zu werden. Was gar nicht gut war, denn es bedeutete, dass es zu tropfen beginnen würde.

Emma hatte einen angeborenen Herzfehler. Sie musste gut achtgeben, das hatten ihre Eltern ihr seit frühester Kindheit eingebläut. Irgendwann würde sie eine Operation brauchen. Bis dahin war sie gut beraten, ihr tropfendes Herz keinen allzu großen Aufregungen, Verwegenheiten, Stürmen oder Feuersbrünsten auszusetzen. Schon gar keinen überhitzten Eroberern.

„Nein! Max, nein! Wir lassen es nicht wiederaufleben, das geht nicht gut!“, rief sie energisch, stieß ihn von sich und wandte sich zum Gehen.

Er setzte ihr nach, fing sie ein, begann erneut, ihren Hals zu küssen, dann ihre Lippen. Emma kämpfte sich frei, wankte zurück.

„Lass mich endlich“, spie sie wütend in den Tag, den sie nur noch wie durch Watte wahrzunehmen begann.

Sein Blick war verzweifelt, seine Lippen formten Worte, aber sie konnte sie nicht hören. Schwindel hatte Emma erfasst. Noch dazu tauchte aus dem Nebel eine pitschnasse, aber ihr wohlbekannte Gestalt neben Max auf. Er war es – der Kellner! Was geschah hier? Plötzlich erkannte sie eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den beiden. Die runde Nase, dieselbe Mundpartie. Emma blieb die Luft weg, sie wankte rückwärts, und es war, als zöge das Meer sie an. Es gab kein Halten mehr, sie rutschte dem Molo Audace[25] so gar nicht verwegen von der Steinkante.

Der Wollmantel sog sich binnen Sekunden mit Wasser voll. Emma wollte ihn ausziehen, aber die Tasche war im Weg. Schon war ihr Kopf unter der Wasserlinie, sie zappelte und strampelte, die Stiefel und das schwere Gewand zogen sie immer weiter nach unten. Es wurde dunkler und düsterer. Sie schaffte es schließlich, sich von der Tasche zu befreien. Dabei blieb sie mit dem Riemen im Tropfenohrring hängen. Die Panik und der Schmerz ließen sie im Reflex unter Wasser aufschreien, und sie schluckte Wasser.


Vieles ist möglich … möglicherweise ist das noch nicht das Ende der Geschichte.


[1] Kai in Triest (heute „Molo Audace“), benannt nach einem spanischen Schiff, welches an dieser Stelle gesunken war, und über dem der Kai errichtet worden ist.

[2] Kai in Triest (heute „Molo Audace“), benannt nach einem spanischen Schiff, welches an dieser Stelle gesunken war, und über dem der Kai errichtet worden ist.

[3] Heiße Schokolade

[4] Kamerad

[5] Name des Opernhauses in Triest vor dessen Umbenennung in „Teatro Giuseppe Verdi“

[6] Kai in Triest (heute „Molo Audace“), benannt nach einem spanischen Schiff, welches an dieser Stelle gesunken war, und über dem der Kai errichtet worden ist.

[7] Kai in Triest (vorm. „Molo San Carlo“). „Audace“ war der Name eines Kriegsschiffes aus dem 20. Jahrhundert, nach dem der Kai benannt wurde. „Audace“ = Kühnheit, Verwegenheit, Wagemut.

[8] Kai

[9] Venusmuscheln

[10] Wein

[11] Heiße Schokolade

[12] Kühnheit, Verwegenheit, Wagemut

[13] Einheit der Kavallerie

[14] “risorgimento” bedeutet „Wiederaufleben“ oder „Wiedererstehung“. Als Risorgimento bezeichnet die Geschichtsschreibung Bestrebungen für einen geeinten Nationalstaat Italien Ende des 19. bis Ende des 20. Jahrhunderts.

[15] Treuer Anhänger

[16] “risorgimento” bedeutet „Wiederaufleben“ oder „Wiedererstehung“. Als Risorgimento bezeichnet die Geschichtsschreibung Bestrebungen für einen geeinten Nationalstaat Italien Ende des 19. bis Ende des 20. Jahrhunderts.

[17] “risorgimento” bedeutet „Wiederaufleben“ oder „Wiedererstehung“. Als Risorgimento bezeichnet die Geschichtsschreibung Bestrebungen für einen geeinten Nationalstaat Italien Ende des 19. bis Ende des 20. Jahrhunderts.

[18] Kai in Triest (vorm. „Molo San Carlo“). „Audace“ war der Name eines Kriegsschiffes aus dem 20. Jahrhundert, nach dem der Kai benannt wurde. „Audace“ = Kühnheit, Verwegenheit, Wagemut.

[19] Übersetzt „hängende Träume“

[20] „Sogni appesi“, Interpret: Ultimo; Songwriter: Niccolò Moriconi; Album „Pianeti“ 2017.

[21] “risorgimento” bedeutet „Wiederaufleben“ oder „Wiedererstehung“. Als Risorgimento bezeichnet die Geschichtsschreibung Bestrebungen für einen geeinten Nationalstaat Italien Ende des 19. bis Ende des 20. Jahrhunderts.

[22] Kai in Triest (vorm. „Molo San Carlo“). „Audace“ war der Name eines Kriegsschiffes aus dem 20. Jahrhundert, nach dem der Kai benannt wurde. „Audace“ = Kühnheit, Verwegenheit, Wagemut.

[23] Kai in Triest (vorm. „Molo San Carlo“). „Audace“ war der Name eines Kriegsschiffes aus dem 20. Jahrhundert, nach dem der Kai benannt wurde. „Audace“ = Kühnheit, Verwegenheit, Wagemut.

[24] „Mein Liebling, ich will dich. Ich wollte immer nur dich. Sei mutig.“

[25] Kai in Triest (vorm. „Molo San Carlo“). „Audace“ war der Name eines Kriegsschiffes aus dem 20. Jahrhundert, nach dem der Kai benannt wurde. „Audace“ = Kühnheit, Verwegenheit, Wagemut.